Seit Beginn der Corona-Pandemie ist klar: Für viele Menschen endet die Infektion nicht nach einigen Tagen oder Wochen. Long Covid kann über Monate oder Jahre hinweg Beschwerden verursachen – besonders im neurologischen Bereich. Fatigue, Konzentrationsprobleme, Gedächtnisstörungen und sogenannter Brain Fog zählen zu den häufigsten Symptomen. Fachleute fassen diese unter dem Begriff Neuro-Covid zusammen. Während anfangs vermutet wurde, das Virus dringe direkt ins Gehirn ein, gehen Forschende heute von komplexeren Wechselwirkungen zwischen Immunsystem und Nervenzellen aus.
Um diese Prozesse besser zu verstehen, wurde 2022 das EU-finanzierte Projekt NeuroCOV gestartet. Koordiniert wird es von Joachim Schultze am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn. Ziel ist es, die molekularen Grundlagen der Erkrankung zu entschlüsseln und langfristig gezielte Therapien zu entwickeln. In einem Interview, das zuerst auf spektrum.de erschien und ebenfalls auf zeit.de veröffentlicht wurde, berichtet Schultze über Herausforderungen, überraschende Erkenntnisse und die gesellschaftliche Bedeutung dieser Forschung.
Was steckt hinter Neuro-Covid?
Viele Long-Covid-Betroffene leiden unter schwerer Erschöpfung, Konzentrationsproblemen und Gedächtnislücken – Symptome, die unter dem Sammelbegriff Neuro-Covid geführt werden. Laut Schultze zeigen bis zu 90 Prozent der Patientinnen und Patienten solche Beschwerden. Dabei gibt es auffällige Parallelen zum Krankheitsbild ME/CFS, das ebenfalls durch Viren ausgelöst werden kann. Schultze geht davon aus, dass Long Covid langfristig als Unterform von ME/CFS betrachtet werden könnte. Die Erkrankung ist in jedem Fall sehr vielfältig und zeigt sich in ganz unterschiedlichen Ausprägungen – von mild bis schwerstkrank.
Das Ziel von NeuroCOV
Das Projekt NeuroCOV will genau verstehen, warum das Gehirn nach einer Corona-Infektion so häufig betroffen ist. Dabei reicht die Forschung von der Untersuchung einzelner Zellen bis hin zur Auswertung großer Datenmengen aus Patientenregistern. Neu ist, dass molekulare Analysen direkt mit klinischen Beobachtungen verknüpft werden. Außerdem arbeiten Fachleute aus vielen verschiedenen Ländern und Disziplinen zusammen – darunter Neuropathologie, Immunologie und Informatik. Diese enge Zusammenarbeit sei entscheidend, so Schultze, um das gesamte Spektrum der Erkrankung zu erfassen.
Welche Veränderungen treten im Gehirn auf?
Frühere Studien haben gezeigt, dass das Gehirnvolumen nach einer Infektion abnehmen kann. Hinzu kommen Entzündungen, Veränderungen der Blutgefäße und in manchen Fällen Eiweißablagerungen, die auch bei Alzheimer zu finden sind. Ob das Virus diese Prozesse auslöst oder bestehende Erkrankungen beschleunigt, ist jedoch noch unklar. Sicher ist nur: Menschen mit Neuro-Covid haben ein deutlich verändertes Immunsystem, das anders reagiert als bei Menschen, die nach der Infektion wieder gesund werden.
Wie wird geforscht?
Die Forschenden nutzen modernste Methoden, um die Krankheitsmechanismen aufzuspüren. Dazu gehören Blut- und Nervenwasseranalysen, Einzelzellgenomik und künstlich gezüchtete Mini-Gehirne aus Stammzellen. Zusätzlich werden KI-gestützte Simulationen eingesetzt, um mögliche Zusammenhänge zwischen Immun- und Nervenzellen zu erkennen. So soll herausgefunden werden, welche Prozesse im Körper genau aus dem Gleichgewicht geraten und wie man sie wieder stabilisieren könnte.
Therapien noch in weiter Ferne
Eine einheitliche Behandlung für alle Betroffenen wird es nach Einschätzung von Schultze nicht geben. Dafür sind die Krankheitsbilder zu unterschiedlich. Stattdessen sollen Biomarker entwickelt werden, mit deren Hilfe sich Betroffene in Untergruppen einteilen lassen. Auf dieser Grundlage könnten gezielte Therapien entstehen – etwa Medikamente, die das Immunsystem regulieren oder Autoantikörper ausschalten. Erste klinische Studien laufen bereits, doch der Weg bis zu wirksamen Medikamenten ist noch lang und hängt stark von der Finanzierung ab.
Warum die Forschung so wichtig ist
Long Covid ist nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Viele Menschen können nicht mehr arbeiten und sind dauerhaft eingeschränkt. Schultze betont, dass die Politik und die Gesellschaft mehr tun müssen, um Betroffenen eine Stimme zu geben und ihre Lage zu verbessern. Nur durch ausreichend Forschung und Kooperation können langfristig wirksame Therapien entwickelt werden. Für Schultze ist klar: Es darf nicht passieren, dass die schwer Erkrankten vergessen werden.